das Poly Buch

Individuelle Tipps

Entscheide dich für persönliches Wachstum

Dies ist natürlich ein Tipp, der für jedermann und jederfrau sinnvoll ist. Erst recht, wenn du in heutigen Zeiten eine erfolgreiche Beziehung führen willst. Wenn du aber mit Poly zurechtkommen möchtest, ist konsequente Arbeit an dir selber dein täglich Brot. Fast alle Experten erwähnen dieses Thema, manche am Rande, für andere, wie Deborah Anapol, Easton/Liszt und auch den Schreiber dieser Zielen ist das ganz zentral. Im polyamorischen Beziehungsgeflecht musst du viel kommunizieren, brauchst Feingefühl und den Sinn für den richtigen Zeitpunkt,  bist mit eigenen und fremden Bedürfnissen konfrontiert. Nicht zuletzt kommst du recht häufig in Situationen, die dein Selbstwertgefühl gefährden und alten Kindheitsschmerz auslösen können.

Mit Samuel Widmer könnte ich sagen: wenn ich mich für Polyamorie entschieden habe, entscheide ich mich für ein spannendes, abwechslungreiches und wahrhaftiges Leben, aber ich entscheide mich auch, in manchen Situationen außen vor zu bleiben, der Ausgeschlossene zu sein. Dass ich das kann, dass ich das wenigstens einigermaßen kann, ist Voraussetzung, nicht nur für Polyamorie, sondern für alles höhere Wachstum.

Manche können das einfach so. Für andere ist es wichtig, in eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst zu gehen, zu den Wurzeln ihrer Gefühle zurückzukehren, ihre Gedanken und Gefühle beobachten, ohne in direkte Reaktionen zu gehen. Vielfach bietet sich dazu eine Therapie an, eine Beratung, ein Coaching oder ein spiritueller Wachstumsprozess. Das hilft dann nicht nur, souverän mit Poly-Beziehungen klarzukommen, sondern auch in sämtlichen anderen Bereichen des Lebens.

Erkenne dich selbst

Wenn du dich für Poly entscheidest, merkst du anfänglich oft, dass du dir gar nicht so ganz klar bist, was du eigentlich willst, in der Liebe, in Beziehungen, im Leben. Einer der großartigen Nebeneffekte dieses Liebesstils ist, dass du die Gelegenheit hast, dir darüber klar zu werden. Das bedeutet aber auch, immer wieder nach innen zu gehen, genau hinzuspüren, wo deine Sehnsucht steckt, und dann wieder nach Außen zu gehen und es ausprobieren. Erlaube dir dabei, Fehler zu machen. An ihnen wirst du vermutlich am meisten wachsen.

Selbstakzeptanz und Selbstvertrauen

Oft wird man als Polyamoriker mit seiner Scham, mit Schuldgefühlen, mit Kommentaren seiner Eltern und alten Freunden konfrontiert, die es einem schwer machen, so zu leben. Prüfe deine Absichten, achte darauf, dass dein Lebensstil ethisch konsistent ist und nicht auf Kosten anderer geht, und übe es, dich selbst zu akzeptieren, so wie du bist. Finde Quellen und Ressourcen, die dir Selbstvertrauen geben, die außerhalb des Feldes von Liebe und Erotik liegen.

Erwirb dir Kommunikationskompetenz

Weil Polyamorie viel mit Kommunikation zu tun hat, solltest du deine Fähigkeiten auf diesem Gebiet steigern und deine emotionale und kommunikative Intelligenz erhöhen. Leben in Gemeinschaft, Gespräche im Freundeskreis und Kurse in emotionaler Kompetenz oder Gewaltfreier Kommunikation nach M. Rosenberg haben sich in der Praxis oft bewährt.

Wähle einen spirituellen Weg

Manche Autoren denken, Poly sei ein Beschleuniger deiner spirituellen Entwicklung und die ideale Ergänzung eines spirituellen Weges. Manche sagen, ohne spirituellen Weg sei Polyamorie gar nicht denkbar oder jedenfalls erschwert. Die Entwicklungsperspektive, die Polyamorie bietet, nämlich seine Liebesfähigkeit mehr und mehr zu erweitern und letztlich vor sein Ego zu stellen, reicht jedenfalls an das heran, was viele „spirituell“ nennen.

Ich tue mir jedenfalls schwer, spirituell zu rechtfertigen, dass ich aus Eifersucht meinen Partner in seiner Freiheit einschränke. Im Rahmen meiner persönlichen spirituellen Entwicklung möchte ich die Eifersucht abbauen.

Der Vollständigkeit halber: im Gegensatz dazu wird von anderen gesagt, dass Spiritualität und Poly-Lebensstil gar nichts miteinander zu tun haben und Poly auch für „profane Menschen“ offen steht.

Verfolge eigene Interessen, finde einen Sinn im Leben jenseits deiner Partnerschaft

Ich habe den Satz gehört: wer eifersüchtig ist, dessen Leben ist zu langweilig. Der tut nicht, worauf er Lust hat. Das deckt sich mit meinen eigenen Erfahrungen: wenn ich an einem Buch schreibe, intensiv einem Hobby nachgehe oder ein berufliches Projekt verfolge, bin ich in der Regel viel weniger eifersüchtig als wenn ich lethargisch herumhänge und nichts mit mir anzufangen weiß. Danielle Nicolet meinte einmal: „Ich bin eigentlich den ganzen Tag mit meinen Sachen beschäftigt. Was kümmern mich die Angelegenheiten meines Partners, wenn er nicht da ist?“

Wer seine eigenen Interessen verfolgt, eigene Freundschaften pflegt, und eine eigene Identität auch neben seiner Partnerschaft hat, die ihm/ihr Selbstwert und Glück verleiht, wird mit Polyamorie besser klarkommen als solche, die ihr eigenes Leben zugunsten der Partnerschaft aufgegeben haben und sich in symbiotischen Strukturen verstricken.

Hierzu gehört auch, dich von einem territorialen Beziehungskonzept zu verabschieden, in dem der Partner als eine Art Besitz oder als Vorhof zur eigenen Person angesehen wird. In diesem Fall wird eine Poly-Beziehung nicht funktionieren. Damit spreche ich nicht gegen Innigkeit, Verbindlichkeit, Zärtlichkeit und phantastischen Sex! Im Gegenteil!

Lerne, für dich selbst zu sorgen und die Verantwortung zu tragen

In einer guten polyamoren Verbindung sorgen die Partner füreinander, gehen auf Absprachen ein, sind zärtlich und liebevoll. Das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Polyamorie auch eine Entscheidung ist, die Verantwortung für die eigenen Gefühle selbst zu nehmen und nicht dem Partner zu überlassen.

Werde dir klar, was du mitmachen willst und was nicht, was du tragen kannst, wie viel Kommunikation und wie viel Rücksichtnahme du brauchst. In unserer Gemeinschaft haben wir mal beschlossen, dass jeder selbst dafür sorgen muss, in der Zeit, in der ein Partner sich anderweitig verabredet, nicht abzustürzen. Das heißt, dass er dann unter Menschen geht, sich eine schöne Badewanne macht, sich mit Freunden trifft, mit einem interessanten Projekt beschäftigt, oder selbst erotisch verabredet. Dass, wer grübelt, schmollt und depressiv wird, versäumt hat, auf sich acht zu geben und dies dann nicht dem Partner in die Schuhe schieben soll.

Deine innere Einstellung pflegen

Damit deine Poly-Beziehungen glücklich verlaufen, ist es wichtig, dir deine Grundsätze zu vergegenwärtigen und zu pflegen. Dass du dich für Poly entschieden hast und warum. Dass Eifersucht nicht zur Liebe gehört, sondern zu den Ego-Gefühlen (was im Widerspruch zur gängigen öffentlichen Meinung ist, da gilt Eifersucht ja geradezu als Liebesbeweis). Makaja empfiehlt, zu wechseln von der Überzeugung: „Ich liebe dich und du bist mein Ein und Alles“ hin zu „Ich liebe die Liebe und bin dankbar, dass ich mit dir immer mehr zu einem Wesen der Liebe wachsen kann“.

Pflege deine Freundschaften und bau Gemeinschaft um dich herum

Wer viele Freunde hat, die auch polyamor denken und leben, der hat es viel, viel leichter. Ich persönlich finde das fast die wichtigste Zutat zu einem köstlichen polyamoren Leben. Gerade die europäischen Autoren betonen dies besonders, wie wichtig es ist, in schweren Situationen und Krisen zu guten Freunden gehen zu können. Wenn ein unterstützender Freundeskreis besteht, in dem solche Gedanken auch gedacht werden und die dich ermuntern, coachen, vermitteln und auf Fehler hinweisen, stehen deine Chancen gut. Noch besser ist es, mit solchen Menschen im Alltag zusammenzuleben, als WG, Poly-Familie oder eben Gemeinschaft. Ohne einen Freundskreis längere Zeit Poly zu leben, empfinde ich als sehr schwierig. Wenn du dich aber klar für diesen Weg entschieden hast, werden Freunde und Gleichgesinnte auftauchen.

Realismus

Sehr nützlich erscheint es mir auch, sich  realistische Gedanken über das Menschsein zu machen. Z.B., dass 50% der Ehen heutzutage wieder aufgelöst werden, dass 65% der Menschen heimlich fremdgehen oder fremdgegangen sind. Dass in 80% der Verbindungen nach 10 Jahren die Sexualität so gut wie eingeschlafen ist. Dass sich fast alle lebendigen Menschen auch von anderen als dem Partner angezogen fühlen.

Dass Eifersucht wahrscheinlich unvermeidlich ist, aber nicht so dominant werden muss, dass sie alles zerstört.

Dass wahrscheinlich auch du das alles kennst und demzufolge neue Wege beschritten werden dürfen, die vielleicht kreativer und lebendiger sind und am Ende auch mehr Chancen auf Erfolg haben.

Sex ist was Positives

In meiner therapeutischen Arbeit gab es mal eine Frau, die erst mit dem Satz “Sex ist nichts Schlimmes”, den sie immer mehr verinnerlichte, den Weg zur Heilung fand. Die meisten Polys sind sex-positiv eingestellt, das heißt sie haben ein aktives Interesse am Sex, genießen ihn sehr, sehen ihn irgendwie auch pragmatisch und weniger aus der „Moral-Ecke“. Sexualität ist für die meisten Polys der Motor, der sie auf ihrem Weg zieht und auch Hindernisse überwinden lässt.

Genauso wichtig ist es, um wirklich Glück zu empfinden, Sex mit Liebe zu verbinden oder immer mehr in Liebe aufgehen zu lassen. Das kann man durch Einstellungsarbeit, aber auch durch körpertherapeutische Übungen wie Bioenergetik, Rolfing oder Tantra sehr unterstützen.

Schau aufs große Bild

Polyamorie ist für viele Teil eines gesellschaftlichen Wandels, eines neuen Paradigma, einer Art, zu leben und zu lieben, die weniger von Angst und mehr von Fülle und Großzügigkeit geprägt ist. Der Gedanke, dass du grade daran bist, an einem neuen Kulturmodell zu bauen, kann dir Größe und Abstand von deinen momentanen Problemen bieten und hilft dir, nicht so viel im eigenen Saft zu köcheln.