das Poly Buch

Verschiedene Arten von Poly

Polyamorie heißt erstmal ja nichts anderes, als dass es möglich ist, mehrere Menschen gleichzeitig und das auch sexuell zu lieben.
In der Praxis kann das sehr viele Formen annehmen und sehr unterschiedliche Lebensmodelle umfassen. So kann sich ein Paar, bei denen sich die Frau mit Zustimmung ihre Mannes zweimal im Jahr mit einer Freundin erotisch einlässt, ebenso polyamor nennen wie ein Großstadtsingle, der mehrere Dauer-Geliebte hat und aufgrund seiner Geschäftstätigkeit kein interesse hat, sich überhaupt familiär mit irgendjemand einzulassen. Polyamore Menschen können in einer spirituellen Lebensgemeinschaft ebenso leben wie im Hinterhof einer Großstadt, in dem vier Bi-Menschen in Eintracht und erotischer Offenheit miteinander hausen.

Nach über fünfzehn Jahren Erfahrung mit diesem Lebensmodell halte ich es für wichtig, eine Sprache zu entwickeln, damit wir verstehen können, um welche Formen von Polyamorie es sich handelt, und wie die Vereinbarungen der Beteiligten aussehen.
In den USA sind solche Begriffe schon seit den Neunziger Jahren gang und gäbe, und sie haben sehr geholfen, Klarheit in die oft verwirrenden Beziehungsgeflechte zu bringen, in die Polyamorie einen manchmal führt.
(wenn auch nicht alle Poly-Anhänger diese Begriffe nutzen wollen).

Primary, Secondary, Tertiary

Es geht zuerst mal um eine Grundunterscheidung, wie wichtig und zentral ein Partner im Leben eines anderen ist:
Primärbeziehung, engl. Primary, bezeichnet den Partner, mit dem ich zusammenlebe, auf den ich mich maßgeblich beziehe, mit dem ich evtl. verheiratet bin, mit dem ich Kinder habe oder mir vorstellen kann, welche zu bekommen, der Mensch, mit dem ich möglicherweise unter einem Dach lebe, mit dem ich meine Finanzen teile, den ich bei meiner Urlaubsplanung berücksichtige, mit dem ich Weihnachten feiere und den ich meinem Eltern als meinen Partner vorstelle.
Die Sekundärbeziehung, engl. Secondary, meint eine langfristige und wichtige Partnerschaft, die auch über mehrere Jahre oder gar lebenslang bestehen kann, die aber nicht die Bedeutung der Primary-Beziehung hat. Also: mit dem oder der Secondary hat oder plant man in der Regel keine Kinder, teilt keine Finanzen, ist nicht verheiratet, plant nicht sein Jahr und bezieht ihn nicht in wichtige Entscheidungen ein. Aber vielleicht fährt man mit ihm mal in Urlaub, verbringt Wochenenden mit ihr, und sagt ihm Bescheid, wenn man sich neu verliebt hat oder jemand Neues dazunehmen möchte.
Manche Polys sprechen auch von der Tertiärbeziehung, engl. Tertiary. Das ist entweder die Person, mit der man eine kurze, leidenschaftliche Affäre hat, wo aber keine langfristige Basis da ist, oder jemand, mit dem man eher freundschaftlich verbunden ist, und gelegentlich auch sexuell ist, aber recht unverbindlich eben.
Viele halten diese Unterscheidung für überflüssig, der Vollständigkeit halber habe ichs mal hier reingenommen.

Man kann nun die verschiedenen Versuche, Poly zu leben, in drei Kategorien einteilen.

  1. Es gibt eine klare Nummer Eins, den Primary-Partner, also das klassische Modell der offenen Zweierbeziehung
  2. Es gibt mehrere Primärpartner, also eine gleichberechtigte Dreier-, Vierer- oder Mehrfachbeziehung
  3. es gibt keinen Primärpartner, aber mehr als einen Secondary, also das Modell des Poly-Singles

Die offene Zweierbeziehung: das Primary-Secondary-Modell

Dieses Modell ist wohl die häufigste Form des polyamoren Lebensstils. Nach außen kann so ein Lebensstil unauffällig bleiben. Wahrscheinlich ist es auch die am meisten akzeptierte und von außen nachvollziehbare Form.
Die Paar-Beziehung hat hier Priorität und steht im Fokus. Nebenbeziehungen sind erlaubt, sollen aber die Hauptbeziehung in ihrer Vorrangigkeit nicht gefährden. Auch wird vorerst keine Erweiterung des Paares in Richtung einer gleichwertigen Mehrfach-Beziehung angestrebt.
In der polyamoren Community sind Paare oft die Basis der Poly-Beziehung. Alle anderen Modelle sind zahlenmäßig weitaus seltener.
Die offenen Zweierbeziehungen unterscheiden sich aber gewaltig in der Art und Weise, wie sie gelebt werden.
Die Palette geht von dem Bedürfnis, alles zu wissen und zu offenbaren, bis hin zur sehr diskreten Behandlung der Nebenbeziehungen. Ein oder mehrere Drittpartner können fast schon zur Familie gehören, bis hin zu lediglich unverbindlichen sexuellen Affären (Poly hat, wie schon beschrieben, fließende Übergänge zum Swinger-Lebensstil)
Auch bezüglich der Verbindlichkeit können sich solche offenen Beziehungen stark unterscheiden. Die Partner können absolute persönliche Freiheit ebenso vereinbaren wie ein Veto-Recht bei jedem möglichen neuen Kontakt des Partners. Es kann Absprachen geben, neue Kontakte vorher oder nachher mitzuteilen.
Manche Paare haben auch die Vereinbarung, dass Kontakte mit anderen nur zusammen mit dem Partner möglich sind, in so genannten „flotten Dreiern“, oder dass aushäusige erotische Treffen mit Dritten nur möglich sind, wenn sich beide gleichzeitig mit ihren Geliebten treffen.

Beispiele

Ricarda und Stefan sind verheiratet und leben seit 15 Jahren zusammen. Beide sind bisexuell. Ricardas Freundin Ruth ist oft da. Stefans Partner Simon lebt 600 km entfernt und kommt manchmal für ein Wochenende. Die vier verstehen sich sehr gut und gehen auch öfters gemeinsam aus.

Lilo und Matthias leben zusammen mit ihren drei Kindern. Matthias hat eine Geliebte, Silvie, die er auf Dienstreisen trifft. Lilo hat selbst keine Interessen an Außenkontakten, hat das mit Silvie aber akzeptiert. Lilo und Silvie haben sich schon dreimal gesehen und mögen einander. Silvie möchte nicht mehr von Matthias, als ihn ab und zu zu treffen.

Mehr als Zwei: Mehrfachbeziehungen, Poly-Familien, Netzwerke

Es gibt nun keine Zweierbeziehung mehr als Grundform. Es ist kein Macht- und Ressourcen-Gefälle beabsichtigt wie zwischen Primary und Secondary. Jeder Partner ist gleichberechtigt und hat dafür zu sorgen, dass die eigenen Wünsche bezüglich Zeit, Sex, Verbindlichkeit, Finanzen usw. berücksichtigt werden, wobei Klüfte zwischen Ideal und Realität oft nicht ausbleiben.
Daher ist diese Form des Zusammenlebens eher selten anzutreffen. In den USA, wo die Polys einige Jahre mehr Erfahrung haben, gibt’s das öfters als bei uns in Europa.

Meistens leben alle Partner unter einem Dach zusammen, wobei die häufigsten Formen die Triade (F-M-F oder M-F-M) und die Quadrille, auch Quad genannt, (F-M-F-M) sind.

1. geschlossene gleichberechtigte Mehrfachbeziehung

Worüber wir hier sprechen, ist eine Art Gruppen-Ehe, wofür es noch keine legale Form gibt. Meist leben drei bis sechs Menschen unter einem Dach eheartig zusammen und teilen Tisch, Bett und Verantwortung, idealerweise jeder mit jedem. Sexuelle Kontakte nach außen sind so wenig möglich wie in einer monogamen Beziehung. Manchmal gibt es jedoch die Offenheit aller Beteiligten, noch mehr Menschen in die „Ehe“ aufzunehmen. Dieses Konzept der Gruppen-Treue wird im englischsprachigen Raum Polyfidelity genannt.
Die Gemeinschaft Kerista in San Francisco hat das Konzept der Poly-Treue wohl am überzeugendsten propagiert.

Beispiele

Lara, Chistoph und Heiner leben zu dritt in ihrem Haus. Sie haben drei Kinder und teilen ihr Einkommen und die häuslichen Pflichten. Es geht nicht immer ohne Konflikte, aber Lara ist sehr bestrebt, den Männern wirklich ihre ganze Liebe zu geben. Die Männer respektieren einander sehr. Sie sind auf der Suche nach einer Frau, die es sich vorstellen kann, mit den beiden Männern das Bett zu teilen und in dem Haus zu wohnen.

2. offene gleichberechtigte Mehrfachbeziehung mit weiteren Beziehungen außerhalb

Bei diesem Modell gibt es keine explizite Vereinbarung zur sexuellen Treue. Jeder Primary kann auch außerhalb der Gruppenehe weitere sexuelle Kontakte pflegen, wobei es unterschiedliche Formen der Mitsprache und Veto-Möglichkeiten gibt.
Zum Schutz der Mitglieder sind hier meist strenge Hygiene-Commitments nötig, d.h. dass innerhalb der Gruppe ungeschützt miteinander geschlafen werden kann, dass aber außerhalb immer ein Kondom benutzt werden soll. In der Centerpoint-Kommune in Neuseeland nannte man das einen Clean-Club.

Auch die Zajedna genannten Mehrfachbeziehungen innerhalb der spirituellen Gemeinschaft Komaja wären noch am ehesten hier einzuordnen.

Beispiel

Paul, ein Therapeut, hat zwei Frauen, Lavinia und Annette. Sie leben mit ihren Kindern in zwei benachbarten Häusern. Paul verbringt die Tage und Nächte mal bei der einen, mal bei der anderen. Manchmal verbringen auch alle drei gemeinsam familiäre Zeiten. Paul und Annette haben auch noch weitere Geliebte, die z.Z. aber nicht so wichtig sind wie diese Primärfamilien.

3. die Poly-Familie, das Poly-Netzwerk oder der Poly-Stamm.

Prinzipiell können sich aus einer offenen Gruppen-Ehe größere Strukturen aus mehreren Primary/Secondary-Partnerschaften entwicklen.
Manchmal handelt es sich um Netzwerke, die aus gemeinsamen Freizeitaktivitäten oder bestimmten sexuellen Vorlieben entstanden sind, z.B. Tantra- oder BDSM, oder sie können einfach über die Zeit aus Freundschaften gewachsen sein. Manchmal sind sie auch als Organisation oder größere Lebensgemeinschaft intendiert und geplant, wie z.B. das Zegg in Belzig oder die Komaja-Gemeinschaft in Kroatien.

3. Der Poly-Single: das non-Primary-Modell

Hier sind Menschen gemeint, die selbst die Entscheidung fürs Singledasein getroffen haben, sei es, weil ihnen Dinge wie Arbeit, Kunst oder Mission am Wichtigsten sind, sei es, dass noch eine Trennung nicht ganz überwunden ist, weil sie viel reisen und ständig unterwegs sind oder eben aus anderen Beweggründen.
In der Regel wohnen sie alleine, oder vielleicht in einer WG.
Sie suchen andere Möglichkeiten, ihre Bedürfnisse nach Intimität, Liebe und sexuellem Austausch zu befriedigen, ohne die eigene Freiheit oder Autonomie zu gefährden.
Sie suchen sich entweder andere Singles, die einen ähnlichen Lebensstil gewählt haben, schon gebundene Partner, die außerhalb ihrer Beziehung noch Zeit und Lust auf einen Secondary haben oder integrieren Erotik und Sexualität in bestehende Freundschaften.
In der Regel gibt es in solchen Beziehungen relativ wenig Absprachen, die sich z.B. auf die Dauer/Häufigkeit der Treffen beziehen. Allen Beteiligten sollte klar sein, dass die Beziehung nur zweite Geige spielt, andere Dinge Vorrang haben.
Hier gibt es Übergangsmodelle zu anderen Formen der Polyamorie, Menschen, die beispielsweise gerne alleine wohnen, weil sie Unabhängigkeit sehr schätzen, die sich aber doch in verbindlichen und langjährigen Beziehungen wohl fühlen. Unter diesen Umständen ist es möglich, einander auch jahrelang regelmäßig zu treffen, gemeinsame Urlaube zu gestalten und starke, intime Gefühle zu teilen, so dass die eine oder andere Verbindung schon in die Nähe zu einer Primary-Beziehung kommt.
Ein solcher Lebensstil ist vor allem sinnvoll, wenn keine Kinder da oder geplant sind.

Einige Beispiele

Martina hat drei Kinder und einen Job. Sie ist mit ihrem Leben zufrieden und hat keine Lust auf eine Primärbeziehung. Sie hat zwei Langzeitaffären, eine mit Gernot, der als Handlungsreisender viel unterwegs ist, die andere mit Stephane, der mit ihrer Freundin Rosa verheiratet ist und mit dem sie sich Donnerstag abend trifft.

Egon ist 52, er ist Schriftsteller, lebt in einer Wohngemeinschaft und hat vier Geliebte. Ihm ist es wichtig, seine Liebe „nicht mit Alltag zu belasten“. Seine Geliebten wissen voneinander und dass Egon nicht für eine Partnerschaft offen ist, schätzen aber seine Kreativität und dass man mit ihm vieles erleben kann. Egon wiederum ist es wichtig, sich nicht mit Frauen einzulassen, die ein Doppelleben führen bzw. ihre Partner betrügen. „Dafür stehe ich nicht zur Verfügung, das ist kategorisch“, sagt er. Dass seine Geliebten sich eventuell in jemand anderes verlieben und ihn dann verlassen könnten, ist ihm bewusst und er nimmt es in Kauf.

4. Der völlige Verzicht auf Definitionen

In der Poly-Szene trifft man öfters Menschen, die versuchen, sich Beziehungsdefitionen ganz zu entziehen. Sie wollen sich aus unterschiedlichen gründen nicht festlegen, jemand als ihre Nummer Eins, ihren Primärpartner oder wie auch immer zu titulieren.
Dahinter steht die Überzeugung, dass man Menschen keine Nummern zuordnen sollte, oder auch die Einsicht, dass Dinge sich oftmals ändern können und dass man am besten fährt, immer auf die Weisheit des Moments zu vertrauen.
Diese Haltung findet man öfters bei jungen Menschen, die noch auf dem Weg der Selbstfindung sind, und bei verschiedenen Idealisten aller Couleur: spirituell, philosophisch oder politisch. Im bereich des politischen Anarchismus gibt es eine Strömung, für die es geradezu programmatisch scheint, in der Liebe ganz dem Ideal der Freiheit zu genügen und sich nicht auf Festlegungen einzulassen.
Meine Erfahrung mit verschiedenen Individuen und Gruppen hat mir gezeigt, dass als Folge solcher Absichten oft starke Verstrickungen du Missverständnisse entstehen, was zu vermeidbarem Leid führen kann, speziell wenn auch Kinder mit im Spiel sind. Ich bin daher kein Freund davon, auf alle Festlegungen zu verzichten. Ich denke, auch die Frage nach der Nummer Eins sollte klar beantwortet werden und alle Beteiligten an einer Poly-Mehrfachbeziehung sollten dieselben Informationen haben.
Ich muss jedoch gestehen, dass ich einzelne LebenkünstlerInnen gekannt habe und kenne, die auch ohne Definitionen und Einengungen der Liebe gut und saftig durchs Leben kommen.

5. Mischformen

Die Mono/Poly-Beziehung

In dieser Beziehungsform ist einer der Partner polyamor, der andere monogam und toleriert aber die Poly-Außenbeziehungen des Partners. Dabei meine ich ausdrücklich Menschen, die sich freiwillig zum Mono-Sein entscheiden und das ändern dürfen.
Eine solche Konstellation kann durchaus funktionieren. Sie erfordert vor allem von der monogamen Person ein stabiles Selbstwertgefühl und eine hohe Fähigkeit, mit Eifersucht umzugehen.
Für den Poly-Partner geht es hier um eine besonders einfühlsame Kommunikation. Wichtig ist, dass der Mono-Partner das Gefühl hat, dass der Partner ihn in seinem herzen trägt. Mir erscheint hier wichtig, dass der Poly-Partner viel Zeit und auch Zuwendung in die Primärbeziehung investiert wird.

Manchmal wird auch die Vereinbarung angestrebt, dass einer poly sein darf und der andere nicht. Das ist keine legitime Variante von poly/mono, sondern im besten Fall eine von beiden gewollte Spielart von BDSM, leider nur zu oft aber auch ein Ausdruck von Besitzdenken, Kontrolle oder Sexismus.

Die Poly/Swinger-Beziehung

Dieser Fall kommt gar nicht so selten vor: einer der Partner liebt lange und verbindliche Beziehungen, der andere steht eher auf kurze unverbindliche Affären oder One-Night-Stands. Diese Paar-Konstellationen haben ihren eigenen Charme und ihre eigenen spezifischen Probleme. Für manche Menschen scheint jedoch eine solche Konstellation möglich zu sein.

Poly und don´t ask, don´t tell

Meiner Ansicht nach sollten diese beiden Lebensstile nicht vermischt werden. Wo das trotzdem der Fall ist, läuft es in der Regel auf das alte Hintergehen und Betrügen hinaus. Ich kenne aus meiner Praxis etliche solche Fälle, in denen Menschen aus Angst, Unerfahrenheit oder mangelnder Kenntnis der Möglichkeiten solche Mischformen gewählt haben. Fast immer kam es früher oder später zu größeren Verletzungen, die die Beziehung sehr belastet haben.