das Poly Buch

Tipps für Paare

Zwischenmenschliches – Tipps für Paare und Beziehungsnetzwerke

Ehrlichkeit allen Beteiligten gegenüber

Dieser Tipp wird von wirklich allen polyamoren Experten, Kommentatoren und Praktikern gegeben. Es scheint sich um die zentrale Strategie polyamorer Menschen zu handeln. Menschen, die Mehrfachbeziehungen leben, sind sich einig, dass dies nur funktionieren kann, wenn alle Beteiligten offen zueinander sind. Nicht in dem Sinne, dass jede Einzelheit und jedes Detail mit dem Partner abgeklärt werden muss, aber dass zumindest der oder die Partner Bescheid wissen, mit wem ich Sex habe, innige Freundschaften pflege, und was für die Beziehung wichtig ist.  Das unterscheidet Menschen, die an langfristige offene Beziehungen glauben, von anderen, die ihre Partner betrügen oder von denen, die  der Meinung sind, ihre Partner könnten Nebenbeziehungen nicht verkraften und die mit ihren Partner eine Vereinbarung aushecken: erzähl mir nichts, und ich frage nichts. Ich sage hier nicht, dass das nicht für eine gewisse Zeit funktionieren kann. Polyamorie ist aber eine andere Sache.

Den/die Partner unterstützen

Wichtig in der Polyamorie ist eine klare Einstellung, einen Partner, der durch schwierige Gefühle geht, warmherzig zu unterstützen, für ihn sorgen, nach ihr schauen. Das heißt, flexibel in den Absprachen zu sein, auch mal auf ein Date zu verzichten, wenn es dem Partner oder einem anderen Partner nicht so gut geht. Auch warmherzig mit der Eifersucht umgehen, sie dafür nicht zu verurteilen. Es kann auch heißen, den Wunsch der Partnerin nach anderen Geliebten zu unterstützen, wenn es auch mal schwer fallen sollte.

Es ist oft nicht leicht, bei deinem Partner Wachstum zu ermutigen, wenn das bedeutet, dass er viel Zeit in seinen beruflichen Projekten verbringen wird, evtl. mal ins Ausland gehen muss, oder eben einen neuen Partner dazu nimmt. Poly-Menschen denken, dass sich das lohnt, und langfristig der Beziehung Kontinuität verleiht. Eine Beziehung, die ich verlassen muss, weil sie mein Wachstum, meine Entfaltung behindert, wird nicht von Dauer sein.

Und es heißt nicht zuletzt, dass sich ein polyamores Netzwerk auch in Fragen des Alltags unterstützt, bei Umzügen, beim Babysitten, in Fachfragen usw. Spätestens da entpuppt sich diese Lebensweise als echte Bereicherung.

Gemeinsam entscheiden

Für einige Polys, mich inklusive, beginnt eine vertrauensvolle und unterstützende Beziehung da, wo man sich entschließt, wichtige Fragen, auch die nach Außenbeziehungen, im Konsens zu entscheiden und nicht im Alleingang. Das heißt, idealerweise werden immer alle Beteiligten eines Beziehungsnetzwerks informiert oder gar gefragt, wenn eine wichtige neue Beziehung dazukommen sollte, zumindest aber die Primaries. Das betrifft auch andere wesentlichen Entscheidungen wie z.B. einen Umzug, einen Jobwechsel, die Anschaffung eines Haustiers usw.

Schwierige Gefühle kommunizieren

In einer Poly-Partnerschaft ist es unabdingbar, schwierige Gefühle wie Neid, Verlustangst, Zu-Kurz-Kommen dem Partner auf eine gute Art zu kommunizieren. Solche Emotionen also nicht unauthentisch in sich hineinzufressen und warten, bis der Deckel hochgeht, aber auch ohne Vorwurf zu kommunizieren und mitzuteilen, indem du vor allem von dir und deinen Emotionen sprichst, damit beim Gegenüber keine Schuldgefühle entstehen. Diese Ehrlichkeit und Offenheit öffnet die Herzen und lässt gemeinsame, für alle akzeptable Lösungen näher rücken.

Vereinbarungen

Hier scheiden sich die Geister: sind Vereinbarungen wichtig, notwendig? Oder werden sie dem Geist einer freien und offenen Liebe nicht gerecht? Es gibt Hinweise und Untersuchungen im Poly-Milieu, dass Vereinbarungen, gerade wenn sie nicht zu starr sind und eher flexibel gelebt werden, aber dennoch klar formuliert sind, sehr wichtig sein können und zu größerer Beziehungszufriedenheit führen.

Makaja empfiehlt jedem Paar, das sich öffnen will, einen Beziehungsvertrag zu formulieren, weil das hilft, überhaupt die eigenen Bedürfnisse transparent zu machen und mit denen des Partners abzugleichen. Sollten andere zu einer Poly-Ehe dazukommen, sollte die ganze Poly-Familie einen verbindlichen Beziehungsvertrag haben. Diese Vereinbarungen sollten von Zeit zu Zeit neu ausgehandelt und an neue Realitäten angepasst werden.

Integrität

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr erkenne ich, dass ein äußerst hohes Ausmaß an Integrität möglichst aller Beteiligten eine zentrale Voraussetzung für langfristige und glückliche Poly-Beziehungen ist.

Es erfordert die Fähigkeit, Dinge, die man zugesagt hat, auch einzuhalten. Das kann von kleinen Dingen wie einen Disco-Flirt mal wegzulassen, oder seine Kondom-Vereinbarung auch wirklich einzuhalten, bis dahin gehen, dass eine feste Absicht, jemanden nicht mehr zu verlassen, eingehalten wird. Oder die Fähigkeit, von der Makaja spricht, sich bewusst zu verlieben, also wenn man sich verliebt, die bisherigen Partner und Freunde nicht links liegen zu lassen, sondern das neue Glück, die Energie der neuen Liebe auch in die weiter bestehenden Beziehungen einfließen zu lassen.

Grenzen setzen und akzeptieren

Die Fähigkeit, Grenzen zu setzen, ist in jeder Beziehung notwendig. Gerade in polyamoren Beziehungen ist diese Qualität doppelt gefragt. Viele Polys opfern sich in offenen Beziehungen auf und achten nicht mehr genug auf sich selbst. Dem Partner wird jede Eskapade erlaubt, und sei sie nur zur Selbstbestätigung, und gleichzeitig werden seine Eifersuchtsanfälle liebevoll umarmt, bis man völlig im Burnout gelandet ist. Wichtig ist, seine eigenen Grenzen zu kennen und dafür einzustehen.

Vertrauen

Gerade in Poly-Beziehungen, in denen es um einen andere Idee von Treue geht als um die der sexuellen Ausschließlichkeit, gilt: entweder die Partner vertrauen einander, oder es kann unangenehm werden.

Es gilt, die Kunst zu üben, ein gewisses Vorschussvertrauen zu geben, dass der Partner seine Freiheit nicht ausnutzen wird, um aus der Liebe zu gehen, oder mir eins auszuwischen. Nur dann kann ich ihn wirklich beruhigten Herzens ziehen lassen. In längerfristigen Beziehungen neigt das Vertrauen zu wachsen und die Verlustangst entsprechend zurückzugehen. Vor allem, wenn Offenheit da ist und jeder Beteiligte weiß, was bei seiner Partnerin innerlich an Prozessen abgeht. Wenn ich dazu noch weiß: mein Partner ist integer und steht für das ein, was vereinbart wurde, kann das Vertrauen mehr und mehr wachsen, und neue und schönere Bilder werden möglich.

Wer darf dazukommen?

Jetzt zu den etwas praktischeren Fragen: Poly sein bedeutet nicht automatisch, offen für jedermann zu sein und sich über jede Außenbeziehung bedingungslos zu freuen. Wichtiger Teil einer Vereinbarung zwischen zwei oder mehreren Partner kann sein, wer als Außenbeziehung in Betracht kommt und wer nicht. Manche wollen ihren bestehenden Liebeskreis nicht oder nur sehr langsam ausweiten. Andere sind auf der Suche nach hohen Verbindlichkeiten auch von Seiten potentieller Liebhaber. Andere haben Voraussetzungen, z.B. eine bestimmte spirituelle Praxis, eine bestimmte Ernährungsweise, nur Nichtraucher oder eine spezielle Religionszugehörigkeit.

Viele Polys sind der Ansicht, dass jeder im Netzwerk voll und ganz hinter den Poly-Vereinbarungen stehen soll. Also dass niemand mitmacht, der heimlich seine Frau betrügt oder Leute, die eigentlich monogam sein und den Partner ganz für sich haben wollen. Ich habe auch gelernt, dass das wichtig ist, weniger aus moralischen Gründen als eher aus dem Grund, Nerven und Energie zu sparen.

Langzeitabsichten

Auch hier sind nicht alle Experten einer Meinung. Was mich betrifft, bin ich mit zahlreichen anderen Polys der Auffassung, dass gerade die Absicht, langfristige Beziehungen aufzubauen und mich auch dafür zu entscheiden, eines der wundervollsten Geschenke dieser Liebeskunst sein kann. Wenn ich weiß: ich verlasse meine Partnerin nicht mehr, und schon gar nicht wegen einer anderen, und wir können uns alle darauf verlassen, dann kann in unserer Beziehung eine Ruhe und Entspannung eintreten, die viele Turbulenzen aushält und durchhält. Ich kenne mehrere Poly-Netzwerke, die schon seit langer Zeit bestehen, und das ist etwas sehr Schönes. Es gibt Ruhe, eine langfristige Perspektive und  führt zu einer Freiheit vor Verlustangst und damit auch zu einem Teil der Eifersucht.

Zeit für die Liebe

Wie in anderen Partnerschaften auch, ist es für die Qualität einer Poly-Partnerschaft wichtig, sich immer wieder Auszeiten zu nehmen, Zeit zu zweit, in denen man sich ganz aufeinander einlassen kann. Ein Urlaub, ein Wochenende. Wenn du mehrere Partnerschaften hast, ist es wichtig, dir mit allen solche Zeiten zu nehmen. Gib jeder deiner Partnerinnen das Gefühl, die Wichtigste zu sein!

In besonderen Situationen sind vielleicht auch zeitlich begrenzte monogame oder besonders eingeschränkte Phasen wertvoll und heilend, z.B. während einer Schwangerschaft, der Stillzeit oder wenn der Partner dich besonders braucht. Das muss in liebevoller Kommunikation einvernehmlich gelöst werden

Herzkraft kultivieren

Nicht nur das Gemeinsame sollte immer wieder gestärkt werden und die Sexualität, sondern auch die Liebe im Herzen zu pflegen kann sehr wertvoll sein. Aus tantrischer Sicht heißt es, wenn du die Energie vom Sexualchakra im Becken zum Herzchakra in der Brust bringen kannst, dass du dann in der Lage bist, weniger Besitz ergreifend zu lieben und den anderen stärker in seiner Gesamtheit zu sehen.

Honeymoons

Am Anfang einer Beziehung, auch wenn sie polyamor sein soll, gibt es bei vielen Verliebten ohnehin nur den Blick aufeinander. Deswegen erscheint mir eine monogame Honeymoon-Phase gut und richtig. Wichtig ist es hier, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, die Offenheit für andere wach zu halten, zu wissen, da kommen auch noch andere Zeiten. Und dann den Zeitpunkt nicht zu verpassen, wenn eine Öffnung wieder ansteht.

Primaries, Secondaries und andere

Es ist eine wichtige und nicht leicht zu beantwortende ethische Frage, wie man Primaries, Secondaries und andere Lover behandeln soll. Der Teufel steckt auch hier wie so oft im Detail, und viele dieser Feinheiten offenbaren sich nur dem, der schon jahrelang damit zu tun hat.

Als Center ist es wichtig, sich möglichst so ehrlich und integer zu verhalten, dass zwischen Primaries und Secondaries kein Konflikt auftritt. Du kannst das auch ermutigen und unterstützen, dass sich alle kennen lernen. Ein klares Bekenntnis zum Primary abzugeben, so du dieses Modell lebst, wird die Sache sehr erleichtern.

Viele Menschen mit Erfahrung in Poly-Beziehungen berichten, das es gut sei, im Fall von Konflikten in der Primärbeziehung diese erst mal zu bearbeiten und zu lösen und sich nicht in andere Beziehungen, die in dem Moment leichter handhabbar erscheinen, zu fliehen. Das hat natürlich da seine Grenze, wo es zur Gewohnheit wird und gar kein Interesse besteht, gemeinsam weiter zu wachsen.

Viele Menschen räumen ihren Primaries ein Veto-Recht ein, das heißt als Primary hast du das Recht, zu angestrebten Kontakten deines Partners jederzeit begründet nein zu sagen, wenn Zeitpunkt oder der entsprechende Außenpartner dir nicht passend erscheinen. Ein solches Veto-Recht lebt allerdings davon, dass es selten gebraucht wird, weil sonst das Vertrauensverhältnis möglicherweise Schaden nimmt. Auch hier gilt: dient diese Vereinbarung dem gemeinsamen Wachstum oder eher der Angst und führt mittelfristig zu größerer Enge?

Was ist, wenn eine aufkommende Secondary-Beziehung den Primary nicht akzeptiert und eigentlich an dessen Stelle möchte? Soll der Primary das hinnehmen, oder kann er hier die Veto-Karte ziehen? Eine der ganz schwierigen Fragen. Eigentlich sollte man als Center die Sache gleich so klarstellen, dass das nicht passieren kann. Aber dies wird öfter mal versäumt.

Hier zeigt sich die langjährige Erfahrung von Morning Glory Zell, wenn sie vorschlägt, das Veto-Recht eines Primaries auf ein Jahr zu beschränken und danach auf jeden Fall den Konsens zu suchen, auch wenn das schwer fiele.

Wie ist es wenn Primaries immer auf einander bezogen bleiben und die wichtigsten Dinge zu zweit entscheiden? Z.B. eine dreimonatige monogame Phase, oder einen Umzug oder ähnliches. Sind Secondaries „Menschen zweiter Klasse“? Wird die Liebe in einer Sekundärbeziehung nicht unterbewertet?

Und was ist, wenn der Primary der „Younger Wing“ in der Beziehung ist, d.h. eine Sekundärbeziehung schon länger besteht, die neue Liebe aber zu stärkerer Verbindlichkeit einlädt? Gelten hier die Rechte des Älteren oder die Rechte des Primary?

Solche Fragen tauchen sicherlich im Verlaufe einer polyamorischen „Karriere“ auf. Eine Standardantwort kann es hier nicht geben, sondern die richtige Vorgehensweise lässt sich nur in einem sorgfältigen Abwägen der Interessen aller Beteiligten herausfinden.

Männer- und Frauensolidarität

Ganz wichtig ist auch der Kontakt zu den Gleichgeschlechtlichen im Netzwerk, zu den Exo-Partnern, den Mitmännern und Mitfrauen. Wenn du diesen Schritt wagst, schrumpft der andere von einer namenlosen Bedrohung auf Normalmaß runter. Oft merken Exo-Partner auch, dass sie einander mögen. Wenn Frauen sich zu Frauen solidarisch verhalten und gegenseitig unterstützen in ihrem Prozess des Wachsens in die gemeinsame Liebe und Männer dasselbe tun, gewinnt das ganze Netzwerk an Stabilität und Intensität. Vor allem werden auf diese Weise die Center entlastet, die ohnehin oft überfordert sind. In unsere Gemeinschaft finden regelmäßig Männer- bzw. Frauenrunden statt, in denen die Liebesfragen eifrig und mitfühlend thematisiert werden.