Polyamorie, was ist das?
Kurz könnte man sagen, dass Polyamorie bedeutet, mehr als eine Person zur selben Zeit erotisch zu lieben. Im Gegensatz zum Fremdgehen geschieht dies hier mit der Einwilligung sämtlicher Beteiligten.
Um Polyamorie von anderen nicht monogamen Lebensstilen abzugrenzen, gehören ein paar wesentliche Merkmale. In seiner im Internet zugänglichen Arbeit hat Christian Rüther drei davon benannt, denen ich zustimme:
- Ehrlichkeit/ Transparenz (Poly ist nicht „Betrügen“)
- Gleichberechtigung/Konsens (Poly ist nicht patriarchale Polygynie)
- Langfristige Orientierung (Poly ist nicht Swinging)
Wenn eine erotische Liebe mit mehr als einem Partner gleichzeitig den oben genannten Kriterien entspricht, wollen wir im Folgenden von Polyamorie sprechen.
Der Poly-Lebensstil seinerseits hat eine große Formenvielfalt, auf den wir später eingehen werden.
Morning Glory Zell, eine der profiliertesten Personen dieses Gebiets, definierte Polyamorie 1999 folgendermaßen: „Die Praxis, der Zustand oder die Fähigkeit, mehr als eine liebevolle sexuelle Beziehung zur gleichen Zeit zu führen, mit vollem Wissen und Einverständnis der beteiligten Partner.“
Die beiden essentiellen Zutaten der Polyamorie sind „mehr als ein“ und „liebevoll“. Das bedeutet, dass die Menschen in solchen Beziehungen eine liebevolle Gefühlsbindung haben sollten, in vielfältiger Weise in ihrem Leben in Beziehung stehen, und für ihr gegenseitiges Wohlergehen sorgen.
Der Begriff ist also nicht dazu gedacht, angewandt zu werden auf Ausübung von Sexualität als reine Freizeitbeschäftigung, Orgien, „One-night Stands“, Prostitution, Fremdgehen, serielle Monogamie, oder die gängige Definition von Swingen als Partnertausch in anonymen Rahmen.
Die angestrebten Beziehungen sind langfristig, vertrauensvoll und schließen normalerweise Sexualität mit ein. Polyamorie ist mehr als Freundschaft, es wird hier, wenn schon nicht vom vollzogenen Geschlechtsakt, doch von einem Austausch sexueller Energie mit mehr als einer Person ausgegangen.
Menschen, die das wollen und die sich selbst als emotional in der Lage sehen, solche Beziehungen zu führen, definieren sich selbst als polyamor.
Eventuell könnte man den Begriff Polyamorie auf Menschen ausdehnen, die die Bereitschaft zu diesem Lebensstil haben und diese Gedanken innerlich unterstützen, aber aus unterschiedlichen Gründen so noch nicht leben.
Polyamorie bezeichnet weiterhin auch eine Art Subkultur von Menschen, die die Möglichkeit von nicht ausschließlichen Beziehungen bejahen und sich in ihrer Praxis – vor allem durch Zuhören und Austausch von Erfahrungen – gegenseitig unterstützen.
Politisch stellt Polyamorie die Idee, dass Zweierbeziehungen die einzig erstrebenswerte oder mögliche Form des Zusammenlebens darstellen, die so genannte Mono-Normativität, die einen Zentralbaustein unserer Kultur ausmacht, in Frage und bejaht, dass ein Mensch mit mehreren Menschen zur gleichen Zeit Liebesbeziehungen haben kann.
Bedingungen von Polyamorie
Ehrlichkeit und Transparenz
Die jeweiligen Partner und Beteiligten wissen um die anderen Partner und Beteiligten. Das jeweilige Beziehungsnetzwerk ist offen gelegt, vielleicht kennen sich die Beteiligten auch untereinander. Es werden keine Anstrengungen unternommen, etwas geheim zu halten.
Es wird dem jeweiligen Partner zugetraut, mit den auftretenden Gedanken und Emotionen umzugehen.
Dieses Merkmal unterscheidet Polyamorie von heimlichen Liebschaften, Seitensprüngen und weiteren Begleiterscheinungen monogamer Partnerschaftsformen: Polyamorie ist nicht „Betrügen.“
Poly stellt sich da auch in Opposition zu der verbreiteten „don´t ask, don´t tell“ – Philosophie vieler Paare. Während dort die Ansicht herrscht, man könnte heimlich fremdgehen und bei dezentem Umgang würde dies auch langfristig funktionieren, glaubt die noch kleine, aber wachsende Minderheit der Poly-Anhänger, dass absolute Ehrlichkeit langfristig zu stabileren und glücklicheren Beziehungen führt.
Gleichberechtigung und Konsens
Alle Beteiligten sind mit den vorhandenen Beziehungen einverstanden oder sind zumindest bereit, nach Wegen zu suchen, um diesen Konsens herzustellen. Die Bedürfnisse aller Beteiligten haben gleiches Gewicht, und es geht darum, auf einer gleichberechtigten Ebene Lösungen zu finden.
Jedem Partner steht es in diesem Modell offen, selbst mehrere erotische Kontakte zu haben.
Dieses Merkmal unterscheidet Polyamorie von den traditionellen patriarchalen Formen der Polygamie, bei der ein Mann mehrere Frauen hat, wie sie u.a. bei den Mormonen und im Islam zu finden war und ist: Polyamorie ist nicht patriachale Polygynie.
Langfristige Orientierung
Poly-Beziehungen, auch sekundäre oder tertiäre, sind auf Langfristigkeit angelegt. Das unterscheidet Polyamorie von Swingen.
Als Swingen gilt ein Lebensstil, in dem Paare einzeln oder gemeinsam einen relativ anonymisierten Sex mit anderen als Ergänzung ihres erotischen Lebens genießen.
Gemeinsam ist diesen Lebensstilen, dass sie nicht-monogam, verantwortlich und sex-positiv sind. Es wird offen kommuniziert, und auf den Partner oder die Beteiligten eingegangen. Obwohl es fließende Übergänge gibt, gibt es auch Unterschiede in der Gewichtung. Viele Swinger haben enge Beziehungen mit Sexualpartnern, als beste Freunde und als Beziehungspartner. Viele Menschen sowohl in der Swinger- als auch in der polyamoren Subkultur sehen beide Praktiken als Teil eines Kontinuums eines offenen Umgangs mit Nähe, Vertrautheit und Sexualität.
Ich würde sagen, während Polyamorie ein ganzheitliches Lebenskonzept ist und eine Alternative zur üblichen Zweierbeziehungskultur, ist Swingen eine Freizeitbeschäftigung wie Karten spielen, Badminton oder Sauna-Gehen. Swingen spielt sich eher im kommerziellen Umfeld von Swingerclubs ab, das Milieu ist teilweise konservativ. Poly ist ein Lebensstil, der stärker den Alltag durchdringt: es geht hier außer um sexuelle Befriedigung verstärkt um Selbstbestimmung und Emanzipation. Swingen konzentriert sich auf Sex und versucht, Intimität teilweise eher zu vermeiden, bei der Polyamorie gehts vor allem um Intimität und Liebe zu mehreren. Bei Swingen gilt die Tendenz: erst Sex, dann Freundschaft, bei der Polyamorie: erst Freundschaft, dann Sex.
Bei genauem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass sich auch im Swingermilieu starke Freundschaften bilden und auch langfristige erotische Kontakte entstehen, die auch von warmen Emotionen begleitet werden.
Und dennoch: Polyamorie ist nicht Swingen, bzw. mehr als das.
Wo kommt das Wort her?
Das Online-Lexikon Wikipedia erwähnt in dem exzellenten und sehr populären Artikel, dass das Wort unabhängig von mehreren Personen kreiert wurde, darunter Morning Glory Zell, die in dem Artikel „A Bouquet of Lovers“ von 1990 die Popularisierung des Wortes anregte, und Jennifer Wesp, welche 1992 die Newsgroup alt.polyamory gründete. Das heißt nicht, dass es solche Praktiken unter einem anderen Namen nicht schon länger gibt.
Statt „Polyamorie“ wird im deutschsprachigen Raum bisher in der Mehrzahl der Fälle die englische Schreibweise „Polyamory“ vorgezogen. Gelegentlich findet auch das französische Wort „Polyamour“ Verwendung. Als Adjektiv wird außer „polyamor“ (mit Betonung auf der letzten Silbe!) oder auch „polyamourös“ verwendet. Wortzusammensetzungen werden bevorzugt mit „poly-“ gebildet, zum Beispiel: „Ein poly-freundlicher Freundeskreis“.
Biologische und soziale Grundlagen
Eine vernünftige gesellschaftliche Diskussion über Polyamorie findet meines Erachtens zur Zeit nicht statt. Das liegt zum Teil auch an der geringen bisher verfügbaren wissenschaftlichen Grundlagenforschung. Nachdem Abweichungen vom sexuellen Normverhalten wie Homosexualität, Bisexualität und BDSM einigermaßen etabliert sind, scheint Polyamorie immer noch der Ruch des Tabus anzuhaften. Eine wissenschaftliche Erforschung des Themas, die nicht von vornherein mit Scheuklappen arbeitet, könnte den polyamoren Ideen zu einigem Auftrieb verhelfen.
Der Sexologe Heinz Meyer, der eine „Geschichte der menschlichen Sexualität“ veröffentlich hat, kommt zu der klaren Aussage: „Der Mensch ist von Natur aus polytrop“. Polytrop bedeutet, er hat eine allgemeine Neigung, sich an mehr als einen Partner zu binden, im Gegensatz etwa zu Tauben oder Dohlen, bei denen lebenslange Monogamie bis ins Witwenstadium die Regel ist.
Dafür gibt es biologische und biochemische Argumente, z.B. die nahe Verwandtschaft zu den polytropen Kulturen der Schimpansen und besonders der Bonobos, die Tatsache, dass es Blockierer- und Killerspermien gibt, sowie die relativ hohe kulturelle Vielfalt polygynen und polyandrischen Formen in menschlichen Gesellschaften.
Obwohl die meisten polyamor denkenden Menschen ähnlich in ihren Werten sind, ist das Bild von polyamoren Lebensweisen sehr unterschiedlich. Es gibt kaum den einen Poly-Lebensstil. Poly kann in ein bürgerliches Milieu integriert werden, und kann aber auch Ausdruck einer systemkritischen Gesinnung sein, Ausdruck einer spirituellen Überzeugung oder von künstlerischer Kreativität, von lebendigem Überschwang oder einer friedlichen Art der Lebenskunst.
Demzufolge gilt: es gibt keine festen, klar umrissenen Regeln. Eigentlich gibt es nur das, was zwischen den Liebespartnern passiert. Daher die besondere Bedeutung der Ehrlichkeit und offenen Kommunikation – wichtig ist, sich über die eigenen Bedürfnisse und Begrenzungen klar zu sein und ein Modell zu wählen, in dem die Vorteile dieses Lebensstils seine Nachteile überwiegen.